Organisationen als lebendige Systeme (iv)

„Stellen Sie sich vor, wie sich Organisationen verändern könnten, wenn wir sie nicht länger wie seelenlose schwerfällige Maschinen gestalten, sondern sie wie Lebewesen behandelten? Was wäre, wenn sie von der evolutionären Kraft des Lebens selbst erfüllt wären?“ (Frederic Laloux, Reinventing Organizations)

Unser Blick auf Institutionen und Organisationen ist vielfach noch geprägt von einem mechanistischen Denken: nach diesem Bild sind Organisationen rational, bestehen aus klar definierten Teilen bzw. Mitgliedern in klar definierten Rollen und einer berechenbaren Leistung. Mechanistische Organisationen sind gekennzeichnet durch Hierarchie und durch eine bürokratische Funktionslogik und bewähren sich vor allem,

  • wenn eine einfache Aufgabe zu erfüllen ist,

  • die Umgebung stabil genug ist,

  • wenn immer genau das gleiche Produkt/Ergebnis hergestellt werden soll,

  • wenn Präzision hoch im Kurs steht und vor allem:

  • wenn die menschlichen „Maschinenteile“ gefügig und gehorsam sind und sich so verhalten wie vorgeschrieben.

Hierarchie als klassisches Integrations- und Koordinationsinstrument sorgt über ein System abgestufter Zuständigkeiten „von oben nach unten“ dafür, dass Stabilität und Orientierung (und Ordnung) sichergestellt werden. Gerade beim Militär, im Krisenmanagement und in Einsatzorganisationen sind klare Befehlsketten schnell und effizient. Allerdings sind mechanistische und hierarchische Strukturen in einer sich rasch ändernden, unsicheren, komplexen und widersprüchlichen Zeit nicht hinreichend handlungs- und entscheidungsfähig. Sobald es nämlich um komplexe Fragestellungen geht, ist Hierarchie zu unflexibel und in der Vielfalt zu sehr begrenzt, als dass sie hier tragfähige, nachhaltige Lösungen zur Verfügung stellen könnte – hier braucht es die Beteiligung Vieler, um solche Lösungen gemeinsam zu erarbeiten. Und das ist in einem hierarchischen System schwierig…

Wenn wir von „lebenden Systemen“ sprechen, denken wir an Modelle, die wir „wie Lebewesen“ betrachten können. Lebende Systeme sind nicht automatisch „innovativer“ als mechanistische Systeme (denn im Prinzip der „Autopoiese“, also der Selbsterhaltung des Systems ist durchaus auch eine Veränderungsresistenz enthalten!) – aber sie sind in jedem Fall überraschender und eigenwilliger als Maschinen-Organisationen. Wenn Selbstorganisation und Selbstverantwortung die Hierarchie ergänzen und ganz oder teilweise ersetzen, entsteht ein lebendes, organisches System, das offen für Veränderungen und fähig ist, sich an verschiedene, auch sehr komplexe, Umgebungen anzupassen und das – wenn wir es als etwas „Lebendiges“ betrachten – wie jede Zelle und jeder Organismus einem selbstorganisierendem Drang folgt. Dazu braucht es keine zentrale Autorität, die Befehle gibt und Entscheidungen trifft.

Unter dem Aspekt der Selbstorganisation geschieht in einem lebenden System „das Neue“. Es entsteht aus dem Zusammenspiel der Einzelteile (der Fische in einem Fisch-Schwarm zum Beispiel: das System als Ganzes (der Schwarm) hat Eigenschaften, über die der einzelne Fisch nicht verfügt. Das kollektive und oft komplexe Verhalten eines Schwarms wird nicht zentral koordiniert und gesteuert – es emergiert aus der Interaktion der beteiligten Tiere, die ihren individuellen Regeln folgen, die sich wiederum im Kollektiv zu etwas Neuem zusammensetzen.

Der Begriff der Emergenz kommt aus der Systemtheorie und beschreibt ein Herausbilden von neuen Eigenschaften und Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Durch Selbstorganisation der einzelnen Teile interagieren sie miteinander, alles hängt mit allem zusammen und schafft so Neues. Beispiele für Emergenzeffekte finden wir in Lerngruppen, Internetforen und über alle Beispiele hinaus sind alle Aktivitätsmuster unseres Gehirns auf Emergenzeffekte von Nervenzellen zurückzuführen. In diesem Kontext geht es vor allem um die Co-Intelligenz, d.h. die Art und Weise wie mehrere Menschen zusammen eine Herausforderung angehen und ihr Wissen und ihre Erfahrungen vernetzen und so die Vorteile einer kollektiven Intelligenz nutzen können. Das, was aus dieser Kollaboration entsteht, können Emergenzen sein.

Auch diese systemische Sicht wird sich in der Haltung der Hosts abbilden: Ergebnisoffenheit (auch wenn wir auf ein Ziel und Ergebnis hinarbeiten!!), dialogische Haltung, Wissen um das „Nichtwissen“, Respekt davor, dass das ein lebendiges, eigenwilliges System ist, das hier arbeitet. Das System bestimmt, wo die Reise schließlich hingeht. Hosts sind Prozessbegleitende, Facilitators – nicht „Wissende“, nicht Expert:innen und nicht Manager:innen.

Einige Thesen zur Funktionsweise von lebenden Systemen:

• Lebende Systeme tendieren zur Vielfalt: Neue Beziehungen eröffnen neue Möglichkeiten. Es geht nicht um die Frage des Überlebens des bzw. der Stärkeren – sondern darum, eine möglichst hohe Vielfalt zu erreichen. Denn Vielfalt erhöht die Chance auf Überleben.

• Experimentieren eröffnet neue Möglichkeiten. Die Natur zielt nicht darauf ab perfekte Lösungen zu finden, sondern praktikable Lösungen. „Das Leben zielt darauf ab etwas zu finden, das funktioniert, nicht was gerecht ist.“

• Antworten, die wir durch Nachdenken suchen, gibt es oft noch nicht – wir müssen manchmal experimentieren, um etwas zu finden, das funktioniert.

• Ein lebendiges System kann nicht gesteuert oder kontrolliert werden – es kann nur angeregt und angestoßen werden, um die Dinge anders zu sehen

• Ein System ändert sich, wenn es die innere Wahrnehmung über sich selbst ändert.

• Wer wir zusammen sind, ist immer unterschiedlich und immer mehr, als wir alleine sein können. Wenn wir uns mit anderen vernetzen, erlangen wir eine größere Breite kreativen Ausdrucks. Denn, wie schon gesagt: Neue Beziehungen führen zu neuen Möglichkeiten.

• Wir (Menschen) sind imstande, uns selbst zu organisieren, wenn wir die richtigen Voraussetzungen schaffen.

• Selbstorganisation führt zu (einer höheren) Ordnung.

• Es gibt nicht „die richtige“ Form der Organisationsgestaltung, es gibt unterschiedliche Organisationsformen und jede hat ihre Stärken und Schwächen. Es ergibt also Sinn, mit den unterschiedlichen Formen umgehen zu können, um ihre jeweiligen Vorzüge situationsgerecht einsetzen zu können.

• Organisationsstrukturen wirken auf Menschen. Und: Organisationen sollten den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Oder?

Vielfalt nützen: Das Wissen der Vielen integrieren.

Die meisten unserer Entscheidungsprozesse sind von der Vielfalt an Akteuren und deren Ansichten, Interessen und Meinungen geprägt. Angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen gilt es diese Vielfalt an Menschen und Meinungen sinnvoll zusammenzuführen. Würden wir in einer komplizierten Welt leben, könnten wir uns „Bedienungsanleitungen“ für unsere Herausforderungen schreiben und diese einfach anwenden – das angestrebte Ziel müsste dann auch erreicht werden. Aus systemtheoretischer Sicht leben wir jedoch in einer äußerst komplexen Welt und haben es auch mit komplexen Problemen zu tun.

Mit Wissen aus einer linearen Logik kann man komplizierte Aufgaben lösen, für komplexe Herausforderungen jedoch braucht es mehr: Wissen und Nicht-Wissen, Erfahrung, Intuition und Können.

Die Logistik einer Fußballmannschaft zum Beispiel ist kompliziert, aber mit genügend Wissen über die Zusammenhänge lösbar. Das Spielen selbst ist dann komplex. Nur mit theoretischem Wissen über das Fußballspiel wird man kein Spiel gewinnen. Es geht ganz einfach ums Können.

Was lernen wir daraus? Alleine mit dem Wissen, was zu tun wäre, kommen wir nicht weiter. Nur im Tun können wir Veränderung lernen und üben. Das beschreibt dann einen umgekehrten Weg: Nicht nur „vom Wissen zum Handeln“ ist unsere Herausforderung, sondern auch „vom Handeln zu Wissen“ zu kommen. Es geht in Entscheidungen also darum, Dinge (Fakten, Argumente, Erfahrungen…) aus verschiedenen Perspektiven sehen zu lernen und diese Unterschiedlichkeiten zu einem großen Ganzen zu integrieren. Oft stehen in Entscheidungsprozessen jedoch unterschiedliche Wissensformen in Konkurrenzverhältnissen. Wie wäre es nun, diese „Gegnerschaft“ aufzulösen und durch eine sinnvolle Kombination dieser vielfältigen Wissenshintergründe ein Feld für kollektives Lernen zu schaffen? Unterschiedliche Inhalte und Perspektiven lassen ein ganzheitlicheres Bild entstehen. Wir treffen tragfähigere Entscheidungen, wenn es gelingt, Wissen zu teilen, zugänglich zu machen und zu hinterfragen, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Erfahrungen anzureichern. „Wesentliche Gespräche“ im Sinn des Art of Hosting haben den Anspruch, in der Beteiligung auch auf Wissen (und nicht nur aufs Mitreden) zu setzen. Respekt vor den verschiedenen Wissenskulturen und Zugängen und die Entwicklung der Augenhöhe sind eine Herausforderung. Immer noch gibt es eine nicht nur gefühlte „Trennung“ und Vorurteile zwischen „Studierten“ und den „einfachen“ Leuten, zwischen dem Klerus und den Laien, Frauen und Männern, Älteren und Jüngeren …; unterschiedliche Überzeugungen, Werte und Lebensstile stehen nebeneinander. Die Aufgabe im Hosting ist es, einen Rahmen zu schaffen, der die diesbezüglichen Unterschiede wertschätzt und einen dialogischen, offenen Zugang ermöglicht. Dann ist „das Ganze“ tatsächlich „mehr als die Summe der Teile“, dann entstehen Räume kollektiven Wissens und gemeinschaftlicher Intelligenz.

Durch den gezielten Einsatz von Interventionsmethoden wie World Café, wertschätzende Erkundung (Appreciative Inquiry), Open Space, Dialog oder Kreis (Circle) etc. treten die betroffenen Interessensgruppen in intensive Dialoge und in einen Prozess, der die kollektive Intelligenz für die Entwicklung von nachhaltigen Lösungen nutzt. Auf Augenhöhe wird eine neue Qualität der Kooperation geschaffen. So kann eine qualitätsvolle Form der Interessensaushandlung gelingen, indem neuartige und kraftvolle Begegnungsräume die Basis für vertrauensvolle Beziehungen bilden.

Aus diesem Grund ist es ein wesentlicher Bestandteil beim Planen eines Art of Hosting-Prozesses, in der Zusammensetzung der Menschen, die zu Gesprächen und zur Beteiligung eingeladen werden, auf Vielfalt und Unterschiede zu achten.